Identität aus Entwicklungspsychologischer und neurobiologischer Sicht - ein Beitrag von Dr. Joachim Schürle, Oberarzt der Altmühlseeklinik Hensoltshöhe
Dieses Zitat des Philosophen Ludwig Feuerbach aus dem Jahr 1850 klingt provokant, beweist aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine zunehmend aktuelle Bedeutung. Was Identität ist und wie sie entsteht, diese Fragen bewegen die Menschheit seit Jahrtausenden. In der Menschheitsgeschichte wurden immer wieder unterschiedliche Aspekte betont, ausgehend von verschiedenen weltanschaulichen Ideen und dem jeweils aktuellen Verständnis von Natur und Wissenschaft. Feuerbach betont die Identitätsbildung im Hier und Jetzt, weit entfernt von hoher Philosophie. Einer seiner philosophischen Vorgänger, René Descartes, hatte da schon „geistigere“ Erklärungsversuche parat: „Cogito ergo sum: ich denke also bin ich“, war seine Erklärung für die Identitätsbildung der Menschheit.
Genetik, Beziehung und Umwelteinflüsse
Wir wissen heute, dass viele Eigenschaften sind angeboren sind und nicht nur das Körperbild wie die Haarfarbe oder den Körperbau bestimmen. Dass Genetik auch für die Persönlichkeit, für Vorlieben und Verhalten von Bedeutung ist, weiß die Erzieherin oder Lehrerin, wie auch wohl jeder Kinderarzt. Wie häufig taucht in der Arbeit an Kindern und Jugendlichen bei der Begegnung mit den Eltern ein frappierendes
„Aha, also daher…“ auf. Parallelen bei Bewegungsabläufen, im Sprechtempo und selbst bei gedanklichen Assoziationen haben wohl auch genetische Ursachen – neben einem Lernen am Modell. Doch fallen auch Unterschiede ins Auge, die neben Umwelteinflüssen auch einer eigenen genetischen Komposition anzulasten sind. Inzwischen hat das Wissen über Umwelteinflüsse zugenommen, die in die Genetik rückwirken – das Fachgebiet der Epigenetik. Sie befasst sich damit, wie Lernen, Erfahrungen, aber auch besonders traumatische Erlebnisse die Ablesung von genetischen Informationen verändern können. Diese Veränderungen können durchaus über Generationen weitergeben werden.
Neurobiologie und Neuroplastizität
In den ersten Lebensjahren eines Menschen findet eine rasante Entwicklung statt. Nicht nur das körperliche Wachstum findet in einer später nie wieder erreichten Geschwindigkeit statt – auch die neurobiologischen Veränderungen, also die Entwicklung von Verschaltungen im Nervensystem, sind immens. Die Forschung auf dem Gebiet der Neuroplastizität in den vergangenen Jahren hat außerdem gezeigt: Die Neubildung von Nervenverbindungen (
spines), also die Entstehung von „Schaltkreisen“, ist ein lebenslanger Prozess.
Ein lebenslanger Prozess
Bei der Identität des Menschen handelt es sich somit um ein prozesshaftes Geschehen. Die Entwicklung geht auch nach dem Erreichen des „Erwachsenseins“ noch weiter. Identität ist also mehr ein Selbst-Werden als ein Selbst-Sein. Wechselnde Lebensverhältnisse, Interessenschwerpunkte und ein Wechsel im sozialen Umfeld führen oft zu einem neuen Selbstverständnis und zu einem neuen Selbst-Bild.
Aus der Forschung der Neuroplastizität des menschlichen Gehirns sind in den letzten Jahren viele Hinweise gefunden worden, wie Begegnungen, Verhalten, Interessen und Beschäftigungen das menschliche Gehirn „umstrukturieren“. Es kommt zur Ausbildung von neuen Verschaltungen und Synapsenbildungen, wenn Dinge mehrmals getan werden, ja selbst, wenn Dinge mehrmals gedacht werden – und dies bis ins hohe Alter. Weit entfernt hat sich das Wissen von dem Konstrukt, dass die Identität mit dem Eintritt in die Welt der Erwachsenen zementiert sei.
Ein Mensch kann viele Rollen-Identitäten in sich vereinen, die Rolle des Vaters, des Vereinsmitglieds, des Sportkollegen und weitere, auch virtuelle Identitäten.
Die sozialen und gedanklichen Bezüge in denen wir uns bewegen formen unser Gehirn und damit unsere Identität und verändern diese andauernd. Übermorgen bin ich nicht derselbe wie Heute!
Glaube und Identität
Auch das Einüben von religiösen Riten, die Beschäftigung mit Glaubensthemen, die Beziehung zu Gott ist mit einer Veränderung unserer Identität verbunden. Die neurobiologischen Veränderungen, die durch Beziehung, Tätigkeiten und Gedanken entstehen, machen deutlich, dass eine Gottesbeziehung nicht nur eine Weltanschauung darstellt, sondern den Menschen verändert. Der überkommene Gedanke, dass uns unser Glaube prägt, betrifft nicht nur ein Bekenntnis sondern hat Auswirkung auf die neurobiologische Substanz unseres Gehirns, auf unser Denken und Handeln. Es macht einen Unterschied, womit wir uns beschäftigen, was wir hören, sehen und lesen und wahrscheinlich auch, was wir essen…
Jesus erinnert uns: „Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.“ (Matthäus 6,22).
Paulus schreibt uns ins Stammbuch: „Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat […] – darauf seid bedacht!“ (Philipper 4,8).
Diesen und weitere Artikel finden Sie in der aktuellen Ausgabe der Zeitung "Hensoltshöhe Mittendrin", die Sie unter diesem Link downloaden können.